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Der Geist des Ortes. Eine Lücke unserer Literatur

Auszug

Wenn die Franzosen nichts von Deutschland wissen, die Engländer in der Kenntniß unserer sittlichen und gesellschaftlichen Zustände nicht weiter vorgedrungen sind, als bis zu unsern rheinischen Volkssagen und unsern Studentensitten, so sind wir jene Ungründlichkeit und diese Phantastik schon gewohnt. Unverantwortlich aber ist es, daß wir uns selber nicht kennen. Kein Volk ist mit der Fremde so vertraut, wie wir, keine Literatur erzeugt Jahr ein, Jahr aus so viele Beschreibungen, Wegweiser, Sittenschilderungen der Länder, die uns nahe und fern umgeben; mit dieser überschwänglichen Theilnahme für alles Fremde steht aber die Aufmerksamkeit, die wir uns selber widmen, in keinem Verhältniß. Wir haben in jeder Kunst und Wissenschaft eine sehr starke vaterländische Literatur, aber was uns in auffallendem Grade fehlt, sind Gesammtdarstellungen unserer gewöhnlichsten, unserer alltäglichen Zustände, Darstellungen unserer Sitten und Gewohnheiten in Stadt und Land. Reisen, durch Deutschland mit derselben Gründlichkeit gemacht, mit derselben Vollständigkeit beschrieben, wie wir solche durch Italien, durch Frankreich, Schweden und Norwegen, ja, selbst in fremde Welttheile machen und beschreiben. Woher dies? Setzt man voraus, daß wir durch unsere Zeitungen, unsere Schulbücher, durch jeweilige, oft treffende Auffassung unserer Localzustände mit dem Vaterlande in allen seinen wissenswürdigen Beziehungen bekannt sind? Wir sind es nicht, wir besitzen über Deutschland keine solche Werke, wie sie Kohl, von Hailbronner, von Raumer, die Gräfin Hahn und andere Reisetalente (das Reisen ist eine Kunst) über das Ausland geschrieben haben. Alle diese Schriftsteller haben Länder beschrieben, über welche es schon vor ihnen Berichte gab; sie dürfen sich nicht einbilden, daß es nach ihnen keine mehr geben würde; sie sahen neben dem ewig Dauernden, den Bergen, Strömen, Volkssitten, Kunstdenkmälern, auch das Flüchtige, Modische, täglich Wechselnde, und beschrieben es; sie dürfen nicht darauf rechnen, daß ihre Briefe und Skizzen über Rußland, Ungarn, Italien, Spanien, Irland länger dauern und für neu gelten werden, als höchstens zehn Jahre; und unsern deutschen Verhältnissen entschließt man sich nicht, eine ähnliche Auffassung und Bearbeitung zu widmen! Eine Reise durch das Deutschland von 1844, eine Reise, heiter und gründlich von Ort zu Ort beschrieben, ein Werk von größerm oder geringerem Umfange, könnte uns etwas willkommener sein? Mit Neugier lesen wir den Anfang italienischer Reisen, er spricht von München, den Anfang pariser Berichte, er spricht vom Rhein, den Anfang nordischer Reisen, wir lesen von Hamburg oder von Pommern und Rügen; warum nicht Werke, die sich die Aufgabe stellen, so das gesammte Deutschland in vollständiger Aneinanderreihung nach den neuesten, frischesten, wenn auch mit der Zeit vergänglichen, Eindrücken darzustellen?