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Unsere gegenwärtige Literatur

Auszug

Bei aller gereiftern Formvollendung, die man unserer neuern deutschen Poesie auf manchen Gebieten einräumen darf, hat man ihr doch den entschiedenen Vorwurf einer auffallenden Inhaltlosigkeit zu machen.

Ein Rückblick auf die vergangenen Zeiten beweist, was wir meinen. In der classischen Periode sowol wie in der romantischen war die schöne Literatur die Vermittelung eines für die Nation im Großen und Ganzen wichtigen Inhalts. Es wurden durch die großen Talente nicht nur neue Formen der Darstellung gewonnen, sondern auch Thatsachen zum lebendigsten Ausdruck gebracht; Thatsachen, die mit dem öffentlichen Geiste, seinem Gähren, Entwickeln, Kämpfen und Sichbewähren im innigsten Zusammenhange standen. Man kann Namen wie Klopstock, Lessing, Herder, Goethe und Schiller nicht nennen, ohne nicht damit auch zugleich Capitel der Culturgeschichte zu bezeichnen. Noch die romantische Periode drückte in ihren Romanen, Dramen, lyrischen und epischen Gedichten einen innigen Zusammenhang mit dem allgemeinen Geiste der Zeit aus. Man wandte sich damals von französischem und antikem Geschmack zu einem germanisch-mittelalterlichen, man wandte sich vom deistischen Glauben zur Philosophie, ja zum Christenthum selbst zurück; man huldigte auch in der Literatur der Geschichte und den Erinnerungen unsers Volks, die nach Bau-, Bild- und Schriftwerken gesammelt wurden. Mit dem Sturze der Fremdherrschaft begann aber schon 1815 jene Inhaltlosigkeit einer sich gleichsam nur selbst befruchtenden Literatur. Der starke, volle Ausdruck einer ringenden Gedankenwelt hörte auf dem reinpoetischen Gebiete auf. Die Talente wurden immer schwächer und ihre Leistungen für die Nation im Großen und Ganzen bedeutungsloser. Man nennt jene Zeit einer auslaufenden größern Periode und eines keineswegs neu wieder nachwachsenden Ersatzes die Restaurationsliteratur. Sie wurde von der Bewegungsliteratur, die in mannichfachen Erscheinungen mit dem Jahre 1830 anbrach, in ihrer innern und äußern Haltlosigkeit mit allen Waffen der Kritik und des Spottes bekämpft; ja man versuchte auch schon wieder, die Poesie zum Ausdruck der allgemein die Zeit bewegenden Ideen zu machen (Tendenzpoesie); indessen theils die mangelnde Unterstützung durch große Talente, theils die Kraft noch vorhandener älterer Literaturreste, theils die Verfolgung der Regierungen und die immer schwieriger sich gestaltende Lage des gedruckten Buchstabens, den öffentlichen Thatsachen gegenüber, hinderte, daß die Poesie wieder in jener alten Kraft und Stärke sich offenbarte, die sie einst zu einem nothwendigen und nicht zu umgehenden Dolmetscher des allgemein Bindenden in der Zeit und der Bildung gemacht hatte. Die Folge dieser immer mehr zunehmenden, von kritischen, abgünstigen Organen noch geförderten Isolirung und Vereinzelung der neuen Literatur ist nun die, daß wir nachgerade zwar in formeller Hinsicht sehr viel Schönes auf allen Gebieten der poetischen Darstellung geleistet sehen, aber im Ganzen genommen eine bis zur Armuth gehende Inhaltlosigkeit unserer neuesten Poesie nicht verschweigen können.